In Kabul ist es still geworden. Dort, wo früher der verzweifelte Schrei unterernährter Kinder gegen die Wände der therapeutischen Station hallte, hört man heute nur noch das Quietschen leerer Metallbetten. Die Station schließt in dieser Woche – nicht wegen Krieg, nicht wegen Krankheit, sondern weil irgendwo in Washington ein Vertrag zerrissen wurde. Weil Geld fehlte. Weil die Regierung Trump beschlossen hat, dass Hilfe nicht länger zum amerikanischen Interesse gehört. Was bleibt, ist Leere. Keine Patienten. Keine Verträge. Kein Essen. „Wenn wir Kinder mit akuter Mangelernährung nicht behandeln, besteht ein sehr hohes Risiko, dass sie sterben“, sagt Cobi Rietveld, Landesdirektorin von Action Against Hunger. „Kein Kind sollte an Mangelernährung sterben. Und doch werden sie es.“ Ein Satz, so klar wie eine Guillotine. Und ebenso erbarmungslos. In einem Land, das durch Jahrzehnte des Krieges entstellt wurde – durch den Bürgerkrieg, durch das zwanzigjährige amerikanische Engagement gegen die Taliban, durch die Rückzüge, Rücknahmen und Rückversicherungen westlicher Politik –, sind es nun die Kinder, die den Preis zahlen. Nicht symbolisch. Nicht metaphorisch. Sondern ganz real: mit ausgemergelten Körpern, mit Organen, die nicht mehr wachsen, mit Knochen, die durch die Haut treten.
Die Zahlen sind brutal: 3,5 Millionen Kinder in Afghanistan werden in diesem Jahr unter akuter Mangelernährung leiden – ein Anstieg um 20 Prozent im Vergleich zu 2024. Ein Kind, das nicht mehr krabbelt, weil es keine Kraft hat. Ein anderes, das nicht mehr essen kann, weil der Körper sich längst aufgegeben hat. Das sind keine Bilder aus der Vergangenheit. Das ist jetzt. Und das ist menschengemacht. Im März stellte Action Against Hunger alle US-finanzierten Aktivitäten ein – nachdem die Mittel von einem Tag auf den anderen verschwanden. Die Organisation versuchte noch, durch Eigenmittel das Allernötigste in Badakhshan und Kabul aufrechtzuerhalten. Aber auch das ist nun Geschichte. Die Stationen sind leer. Die Kühlschränke ausgesteckt. Die Verträge der Pflegekräfte gekündigt. Es war einmal ein Versprechen: Dass kein Kind an Hunger sterben müsse. Dass humanitäre Hilfe nicht verhandelbar sei. Dass die USA als größte Gebernation eine moralische Verantwortung trügen. Letztes Jahr stellten die Vereinigten Staaten noch 43 Prozent der internationalen humanitären Hilfe für Afghanistan. Jetzt: nichts. Kein Cent. Kein Plan. Und während in Washington neue Deals verkündet werden – mit Rüstung, mit Mauern, mit Milliarden für „Sicherheit“ –, verhungern in Kabul Kinder. Nicht aus Versehen. Sondern weil Hilfe politisch unpopulär geworden ist.
„Wenn sie keine medizinische Versorgung bekommen, sterben sie“, sagt Rietveld. Und das tun sie nun. Still. Fernab der Schlagzeilen. Dr. Abdul Hamid Salehi, ein Kinderarzt aus Kabul, beschreibt Mütter, die mit ihren sterbenden Kindern kommen – in der Hoffnung auf ein Wunder, das ausblieb. „Sie warten noch immer, dass jemand uns finanziert, dass wir unsere Arbeit wieder aufnehmen können.“ Warten. Hoffen. Sterben. Wer heute Kabul verlässt, verlässt keine Krisenzone. Er verlässt ein Symbol. Ein Symbol für das, was passiert, wenn Politik sich von Ethik trennt. Wenn man mit Rechenschiebern über Leben urteilt. Wenn Humanität dem Haushaltsentwurf geopfert wird. Der Hunger ist kein Naturereignis. Er ist eine Entscheidung. Und wie Orwell einst über die Armut in Wigan schrieb, gilt auch hier: „Die Menschen hungern nicht, weil es an Nahrung mangelt. Sie hungern, weil jemand beschlossen hat, dass sie es tun sollen.“ Vielleicht wird sich später einmal jemand erinnern, dass ein leerer Raum in Kabul mehr über diese Epoche sagt als jede Rede in Washington. Nicht der Tod ist die Katastrophe. Sondern die Gleichgültigkeit, mit der wir ihm zusehen. Und irgendwann wird ein Kind auf einer anderen Seite der Welt fragen, warum niemand etwas getan hat. Dann wird die Antwort nicht lauten: „Wir konnten nichts tun.“ Sondern: „Wir wollten nicht.“ Und während in Deutschland Vertreter der AfD wie Alice Weidel und Maximilian Krah mit kalkulierter Empörung auf neue Flüchtlingszahlen reagieren, verlieren sie kein Wort darüber, dass ihr politisches Idol, Donald Trump, jene humanitäre Hilfe gestrichen hat, auf die Millionen Menschen in Afghanistan, Venezuela oder im Sudan angewiesen sind, um überhaupt zu überleben. Und was sagen diese vermeintlichen Verteidiger des Abendlandes dazu, dass Kinder verhungern, weil Washington beschließt, dass sie es dürfen? Und was bedeutet es, wenn genau jene AfD-Wählerinnen und Wähler, die in Trump einen „Helden“ sehen, offenbar bereit sind, diesen Weg mitzugehen – einen Weg, der nicht das Abendland schützt, sondern das Menschsein verrät? Wenn das die Vision der AfD ist – eine Welt, in der man lieber Kinder sterben lässt, als Hilfe zu gewähren –, dann sollte man diesen Wählern nicht Einwanderung verbieten, sondern dringend Auswanderung empfehlen. Nicht aus politischen Gründen. Sondern aus moralischen.